anamana.ch

Coaching, Gebäudetechnik, Projektleitung, Indien

Ein paar Stunden

Erinnerungen, Samstag 16.00, Kovalam

In ein paar Stunden schon bringt mich ein Jet ein Stueck näher an… Daheim? Zwischenlandung in Doha und endloses warten, eigentlich nicht lange, nur sieben Stunden. Gegen Abend des längsten Tages werde ich in meiner Heimat landen und vorläufig zurück sein in meinem alten Leben. Abgeholt am Flughafen, nach Hause chauffiert und womöglich bekocht, befragt. Ein Feuer in der kürzesten Nacht mit erzählen und schweigen, trommeln und singen?
In ein paar Stunden schon. Vorbei ziehen die Erinnerungen an die vergangenen Tage, an die Reisen, das Schwitzen, das Essen, die Menschen!
Der Mann, der zur Zeit noch die ganzen Fäden in der Hand hat, das ganze Gewicht der anrollenden Projekte auf seinen Schultern spührt. Seine Frau, die fast ununterbrochen kocht, wäscht, abwäscht und dennoch viel Zeit zum Ruhen hat. An die Kinder, die nun beginnen auf ihren eigenen Beinen zu stehen und ihren Weg durchs Leben aus dem Schoss der Familie heraus suchen. Die Enkelkinder, die eben erst lernten, auf ihren eigenen Beinen zu stehen und noch die Muse haben, nackt und unbekümmert ums Haus zu rennen. An die unzähligen Menschen, die jeden Tag an diesem Haus vorbei laufen, rennen, fahren. Flüchtige Momente. Der Tod des kleinen Hundes unter den Rädern einer Rikshaw am Abend, gleich vor meinem Stuhl. Der Mann, der regelmässig die ausgekämmten Haare der Frauen gegen einen Bangle oder ein paar Sicherheitsnadeln eintauscht. Er wird sie später an jemanden weiterverkaufen, der daraus Haarverlängerungen herstellt. Vanity, die Eitelkeit, lässt praktisch alle indischen Männer selbst im Alter noch ihre Haare schwarz färben.
Die Menschen im Kindercamp mit ihren Fragen, Freuden, Ängsten, ihrer Sehnsucht und Motivation. Die Übernahme durch unsere Organisation ist am Laufen aber noch ist nichts fixiert. Packen sie die Herausforderung oder möchten sie beim Bekannten bleiben? Packen wir die Verantwortung, können die Anderen sie loslassen?
In ein paar Stunden schon. Die Kinder, die wir im Laufe unserer Reise besuchten, viele habe mich nun schon das zweite Mal gesehen. Den Weissen mit dem Stoffbeutel – war er das letzte Mal nicht Blau? – und dem Hut um den Kopf vor der sengenden Sonne und die Haare vor dem ständigen in die Augen hängen zu bewahren. Er kommt und bewahrt. Bewahrt vor Schulabbruch und vorzeitigem Eintritt ins Erwachsenenleben, bewahrt die Chance und Möglichkeit auf bessere Ausbildung und Zukunft. Leuchtende Kinderaugen, junge Menschen, die stolz ihre Schulunterlagen präsentieren. Die über ihre Ausgaben im letzten Jahr Buch geführt haben und sich herzlich für die Unterstützung der Organisation bedanken, in deren Auftrag ich unterwegs bin.
Mädchen, an der Schwelle zur Erwachsenen Frau und doch dank des indischen Bildungssystems noch Jahre von einem Abschluss oder einer Anstellung und eine Generation von der Selbständigkeit entfernt. Wieviele werden wohl im Laufe der Zeit noch auf der Strecke bleiben und von ihren Eltern oder sonstigen Verwandten in einer arrangierten Hochzeit an einen Mann ausgeliefert werden? In ein paar Stunden schon.
Wundersames Indien, in eine paar Minuten schon von Bettelarm zu Hochentwickelt. Und doch begegnen einem auf den Strasse weniger Leute mit dem europäisch-leeren Blick. Mit Nahrung, Kleidung und Schutz vor Regen und Sonne sind Menschen hier zufriedener als mit Eigentumswohnung und Plasmafernseher in Europa. In den ländlichen Gebieten funktioniert das Leben mit Ausnahmen noch wie bei uns vor hundert-zweihundert Jahren und doch, in den Städten und Agglomerationen hat der Wandel begonnen. Die Konsumgesellschaft hat ihre Exporte durch Werbung und Fernsehen erfolgreich gepflanzt, aber die Schattenseiten der modernen Zivilisation sind nicht minder am wachsen. Wann endlich beginnt hier das Wertststoff-Management? In ein paar Stunden schon? Ich bin der Einzige, der seine Zigarettenstummel in einer leeren Zündholzschachtel sammelt, werde verdutzt angeschaut, werde belächelt. Und dann, wohin damit?
Vor ein paar Stunden noch, da lag ich hier in Kovalam in der Sonne zwischen zwei Regengüssen derweil In Guntur immer noch keine Regentropfen fallen und das Thermometer über 42 Grad zeigt. Die Temperatur hier steigt auch jetzt in der Monsun-Zeit noch rasch auf über 35 Grad im Schatten. Dazu die hohe Luftfeuchtigkeit, die dafür sorgt, dass selbst bei trockenen Stunden während des Tages die Bettwäsche ihre Feuchtigkeit und den leicht schimmligen Geruch behält. Ein paar Stunden Regen pro Tag lässt die Natur förmlich explodieren, das lebenspendende Wasser entfaltet hier eine wahre Orgie an Farben, Gerüchen, Tönen und Leben. Der Regen übernimmt das Diktat in Indien, das Leben richtet sich danach aus. Ein paar Stunden nur – oder Tage! Und hoffentlich auch bald im trockenen Andhra Pradesh.

Ein paar Stunden wieder und ich bin angekommen… Daheim!

Updated: 22. Juni 2009 — 1:04

Schreibe einen Kommentar

anamana.ch © 2016 Frontier Theme